PEKING. Immer mehr verzweifelte Bauern greifen zu Gewalt. Bei Protesten sind erste Tote zu beklagen. Die drastisch zunehmenden Unterschiede zwischen Arm und Reich haben die einst kaum existierende
Kluft in Chinas Gesellschaft zu einer der tiefsten der Welt werden
lassen. Vor der diesjährigen Tagung des Volkskongresses, die am
Sonntag in Peking beginnt, hat Staats- und Parteichef Hu Jintao
erneut die Bauern in den Mittelpunkt gerückt: „Sozialistische neue
Dörfer“ lautet eines der Hauptziele für den neuen Fünf-Jahres-Planes,
den die 3000 Delegierten auf der zehntägigen Sitzung annehmen werden.
„Das ist doch nur ein Slogan“, kritisierte der Rechtsexperte Yao
Lifa, der sich um Bauernfragen kümmert. Wegen ständiger Bewachung
durch die Staatssicherheit reist er anlässlich der Tagung nicht nach
Peking. Seit Jahren verkündet die Führung schon, dass den Bauern
geholfen werden soll, ohne dass sich wirklich etwas ändert. „Das ist
schwer zu erreichen. Die eigentlichen Probleme liegen im System.“
Jetzt haben Zwangsenteignungen für Entwicklungsprojekte und korrupte
örtliche Regierungen die Spannungen noch verschärft. Zig-Millionen
Bauern haben ihr Land und Einkommen verloren, suchen neue Arbeit in
der Städten. Ministerpräsident Wen Jiabao fürchtet wachsende soziale
Instabilität: „An einigen Orten wurde Land ungenehmigt enteignet und
die Bauern nicht angemessen entschädigt und versorgt.“
Die amtlich eingeräumten Zwischenfälle stiegen vergangenes Jahr um
6,6 Prozent auf 87 000. Proteste, bei denen Behördenarbeit gestört
wurde, nahmen sogar um 19 Prozent zu. Die wachsende Einkommenskluft
zwischen Stadt und Land nennt selbst die oberste Wirtschaftsbehörde,
die mächtige Reform- und Entwicklungskommission, „alarmierend und
unzumutbar“. Der Gini-Koeffizient für die Einkommensgleichheit hat
längst die gültige Warnschwelle von 0,4 überschritten und liegt jetzt
bei 0,53. Dieser nach dem italienischen Statistiker Corrado Gini
benannte internationale Messwert zeigt bei Null perfekte Gleichheit
an, während Eins das gesamte Vermögen nur in einer Hand sieht.
In den Städten wird heute pro Kopf schon 3,3 mal mehr verdient als
auf dem Land, wo 60 Prozent der Chinesen leben. Werden die Ausgaben
der Regierung für Schulen oder Gesundheitswesen berücksichtigt, sind
die Städter sogar sechs mal besser dran. Die Hälfte aller Dörfer hat
keinen Zugang zu Wasserleitungen, zehn Prozent nicht einmal Straßen.
Mehr als 90 Prozent der Bauern sind nicht krankenversichert. „Ob die
große Zahl der Bauern die Früchte der wirtschaftlichen und sozialen
Entwicklung teilen kann, hängt davon ab, ob ihre Stimme gehört und
respektiert wird“, plädierte das Organ der mächtigen kommunistischen
Jugendliga, „Zhongguo Qingnianbao“, für ein System der Mitsprache.
Schlägerbanden und korrupte Parteifunktionäre
Örtliche Regierungen müssten „ihren patriarchalischen Arbeitsstil“
aufgeben und dürften „nicht die einzigen Entscheidungsträger sein“.
Doch Wahlen und Mitbestimmung auf Dorfebene gibt es bereits, stoßen
aber immer wieder an Grenzen, wenn korrupte Parteifunktionäre ihre
Macht nicht abgeben und in die eigene Taschen wirtschaften. Empörte,
hilflose Bauern werden teils mit angeheuerten Schlägerbanden in
Schach gehalten.
Aktivisten oder Anwälte, die Bauern über ihre Rechte
beraten, werden zusammengeschlagen. Dass hier vieles im Argen liegt,
schien der Zeitungskommentar mit der Mahnung einzuräumen, dass „eine
reibungslose Umsetzung der Basisdemokratie“ auf dem Lande
entscheidend sei, ob die Initiative für „sozialistische neue Dörfer“
überhaupt Erfolg haben kann.